Eine Gänsehaut lief mir über die Arme und ich zog die Strickjacke enger um meine Mitte. Obwohl ein goldener Oktobertag hinter dem kleinen Städtchen Gloomy Village lag, war es nun, wo der volle Mond durch die kahlen Baumkronen zu sehen war, deutlich kälter. Wahrscheinlich hätte ich einfach auf Lucys Halloweenparty gehen sollen, auch wenn sie mich nicht dazu eingeladen hatte. Als meine beste Freundin wusste sie, dass ich diesen Feiertag nicht leiden konnte. Na ja eigentlich wusste es meine ganze Stufe, aber Lucy war die Einzige, die auch den Grund dafür kannte.
Nun stand ich ausgerechnet in dieser Nacht mitten im städtischen Wäldchen und starrte auf das bronzene Schild, das an einer niedriger Mauersäule befestigt war. Mit dem Finger strich ich über die Gravur und las die wenigen Zeilen:
Castle of Gloomy Village
1889
Lord Wellington
Auf der Säule thronte die Figur eines Löwen, der starr zu mir hinabblickte.
»Mila, was tust du hier?«, flüsterte ich und die Worte vermischten sich mit dem Säuseln des Windes. Ich tastete in meiner Hosentasche nach dem Zettel, um mich zu vergewissern, dass er noch dort war. Dass ich mir das alles nicht bloß eingebildet hatte. Ich hätte ihn einfach zusammenknüllen und in den Papierkorb werfen können, als ich ihn heute Morgen in meinem Schließfach in der Schule gefunden hatte. Stattdessen waren die Buchstaben vor meinen Augen verschwommen, während ich auf die Worte, die noch immer in mir nachhallten, gestarrt hatte: »Mila, komm heute Abend um Mitternacht zu meinem Heim. Du wirst erwartet.«
Unterzeichnet war die Nachricht mit dem Namen einer Frau gewesen, den die meisten aus der Stadt nur hinter vorgehaltener Hand aussprachen. Miss Wellington war, glaubte man den Meinungen mancher, eine Hexe. Oder einfach eine Verrückte. Es kam ganz darauf an, wen man fragte. Auch wenn dieser Zettel nach einem albernen Halloweenstreich klang, war er für mich zu einem inneren Sog angewachsen, der meine Kehle eng werden ließ. Dabei hatte ich wirklich versucht, besonders früh schlafen zu gehen und den Zeitpunkt bewusst zu verpassen.
Aber nun stand ich hier. Hatte noch nicht den sandigen Weg betreten, der zur Eingangstreppe des Anwesens führte und im Licht des Mondes gelb schimmerte. Feine Nebelschwaden lagen über den weiter hinten liegenden Türmchen und Erkern des Gebäudes, das sowohl an Tag als auch bei Nacht die Farbe von Rauch hatte. Meine Finger fuhren über die rauen Backsteine der Säule, die bereits teilweise verwittert war. Sie wirkte seltsam verloren und lag noch einige Schritte vom Anwesen entfernt.
Ich schob den Ärmel meiner Strickjacke zurück und blickte auf die leuchtende Anzeige meiner Uhr. Gerade wanderte der Sekundenzeiger in Richtung 12, wo bereits die anderen beiden Zeiger auf ihn warteten. Doch im nächsten Moment wurde das Display plötzlich schwarz und ein Tippen das Glas bewirkte lediglich, dass Lichtblitze darüber zuckten. Wieso sollte die Uhr ausgerechnet um Punkt Mitternacht ihren Dienst versagen?
Ich hob meinen Blick zum Gebäude. Die zuvor eher diffusen Nebelschwaden schienen jetzt deutlich heller zu leuchten und als im Ast neben mir eine Eule aufstob, zuckte ich zusammen. All meine Sinne waren auf Flucht kalibriert, dennoch bewegten sich meine Beine wie automatisch und trugen mich zu der breiten Treppe aus Stein. Die Eingangstür wirkte wie ein schwarzes Loch, das jegliches Licht in sich aufnahm und ich schluckte, obwohl mein Mund vollkommen ausgetrocknet war.
Geisterbahnen und Horrorfilme hatten mir nie etwas ausgemacht, aber als direkt vor mir das bleiche Gesicht einer Frau erschien, schrie ich laut auf. Jeder Muskel in meinem Körper war erstarrt und machte mich bewegungsunfähig.
»Entschuldige mein Kind, ich habe keine Süßigkeiten im Haus.« Die Stimme der älteren Frau war belegt, als habe sie seit einer Ewigkeit nicht gesprochen. Sie war aus dem dunklen Eingang herausgetreten und nun, da der Mond ihre Züge beleuchtete, erkannte ich die eingefallenen Wangen und die stahlblauen Augen.
Ich nahm einige bewusste Atemzüge, um meinen polternden Herzschlag zu beruhigen, und testete, ob sich meine Beine wieder bewegen ließen, indem ich von einen Fuß auf den anderen Fuß trat. »Ich bin nicht deswegen hier. Sind Sie …« Ich räusperte mich. »Sind Sie Miss Wellington?«
Ihre schmalen Lippen bildeten ein Lächeln. »So nennt man mich wohl. Wer ich bin lässt sich jedoch nicht mit wenigen Worten sagen.« Sie trat einen Schritt zur Seite und deutete mir mit der Hand einzutreten.
Ich zögerte. »Ist dieser Zettel von Ihnen?« Erst als ich versuchte, das Papier aus der Hosentasche zu fischen, bemerkte ich, dass meine Hände zitterten. »Wer erwartet mich? Und wieso ausgerechnet hier? Warum heute?«
»Mila, mein Kind«, unterbrach Miss Wellington die Fragen, die ungebremst aus meinem Mund purzelten. »Eure Zeit ist begrenzt und reicht nicht aus für all deine Fragen. Du wirst verstehen.«
Mein Mund öffnete und schloss sich wieder. Ich schlang die Arme um meinen Körper, folgte dann aber der älteren Frau. Beim Überschreiten der Türschwelle zog plötzlich ein Lufthauch an meinem Nacken vorbei und ich glaubte, meinen geflüsterten Namen gehört zu haben. Ich wandte meinen Kopf, doch der schwarze Durchgang hatte den Wald ausgeschlossen und ich konnte nichts mehr erkennen.
»Wieso magst du Halloween nicht?« Miss Wellingtons Stimme ließ mich erschrocken zu ihr umdrehen. Wieso wusste sie das und woher kannte sie überhaupt meinen Namen? Geschweige denn mein Schließfach in der Schule.
»Als Kind mochte ich es sehr gern«, war meine Antwort, obwohl ich viel lieber all meine Fragen gestellt hätte. Über diese Geschichte sprach ich mit niemandem, aber ich ging normalerweise auch nicht mitten in der Nacht zum Anwesen einer unheimlichen Frau, die in der ganzen Stadt als Verrückte oder Hexe bekannt war – je nachdem.
»Was ist geschehen?«, fragte mich nun ebendiese Frau und wirkte im Licht des riesigen Kronleuchters an der Decke nicht mehr gruselig, sondern wie eine nette alte Dame von nebenan, die am Wochenende Besuch von ihren Enkelkindern bekam. Nur das rote Samtkleid und das Haarnetz passten weniger ins Bild und erweckten den Eindruck, als stammte sie aus einem vergangenen Jahrhundert.
»Ich war neun Jahre alt und wollte wie jedes Jahr mit meinen Freundinnen auf eine Süßes oder Saures Tour gehen«, begann ich zu erzählen.
»Ach, wie unhöflich von mir«, wandte Miss Wellington ein. »Setz dich doch, Liebes. Ich setze Tee auf und bringe Kekse.« Sie deutete auf eine in die Jahre gekommene Sitzbank, die mit grünem Samt bezogen war und in der Mitte des Raumes an einem antiken Holztisch stand. Dort gab es noch vier weitere Sitzgelegenheiten, Stühle mit demselben Bezug.
Ohne meine Reaktion abzuwarten, verschwand die Frau durch einen Durchgang in einen anderen Raum und die Absätze ihrer schwarzen Stiefel hinterließen ein lautes Klacken auf dem Parkett, das von den hohen Wänden widerhallte.
Da mir das Herumstehen unangenehm war, entschied ich, ihrer Bitte nachzukommen und mich zu setzen. Ich schwankte in Gedanken zwischen gespannter Erwartung, grausigem Entsetzen und lautem Lachen. Wenn das hier nicht genauso wie eine Szene aus einem schlechten Horror-Film war, dann wusste ich auch nicht.
In dem Moment fegte ein kräftiger Windstoß durch den Raum, die Lichter des Kronleuchters erloschen und die Gläser in den Vitrinen klirrten. Fröstelnd rieb ich mir über die Arme. Die Temperatur war mit einem Mal um einige Grad gesunken. Und auch, wenn ich ein vollkommen rational denkender Mensch war, musste auch ich endlich einsehen, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugehen konnte.
»Miss Wellington?«, rief ich in der Hoffnung, dass das Lauschen meiner eigenen Stimme mich beruhigen konnte. Doch das tat es nicht. Die Hallwirkung des Raums hatte zugenommen und ich konnte noch immer nichts erkennen. Kaltes Blut kroch mir durch die Adern und ich wippte mit den Füßen auf und ab, während ich die Hände fest in das Polster unter mir krallte.
Wenn ich die Augen schloss und dann wieder öffnete, würde ich in meinem Bett wieder aufwachen. So musste es einfach sein.
»Mila.« Es war nicht mein Name, sondern die Stimme, welche ihn flüsterte, die mein Herz zu einem spontanen Sprint anspornte. Eine Stimme, die ich all die Jahre so sehr vermisst und bei dessen Erinnerung immer wieder dieses lähmende Gefühl der Schuld über meinen Rücken gekrochen war.
»Grandma.« Ich öffnete die Lider und wurde kurz geblendet von dem strahlenden, bläulichen Licht vor mir.
Als ich im nächsten Moment die feinen Umrisse einer Gestalt ausmachte, schlug ich mir die Hand vor den Mund und keuchte.
»Hab keine Angst, Milena.«
Ich schluckte, doch der feste Kloß in meinem Hals verschwand nicht. »Es tut mir so leid, Grandma.« Die Tränen mir liefen ungehindert über die Wangen und tropften auf meine Hände.
»Nicht weinen.« Die durchschimmernde Gestalt meiner verstorbenen Großmutter streckte den Arm nach mir aus, als wollte sie mit ihrer Hand die Tränen fortwischen. Doch alles, was ich spürte, war ein kühler Hauch. »Du warst ein Kind.«
Ja, ich war ein Kind gewesen. Ein Kind, das sich nicht hatte von seiner Oma verabschieden können. »Aber ich hätte dich nicht im Stich lassen dürfen. Ich hätte nicht …« die Stimme versagte mir.
»Milena«, ihre Stimme war so warm. So voller Liebe. »Dich trifft keine Schuld.«
Es waren diese Worte, die alle Dämme brachen. Ich sackte schluchzend in mich zusammen und beinahe war es, als könnte ich für einen Augenblick die stützende Umarmung meiner Grandma spüren. Und das schwere Gefühl ließ mit jeder Träne mehr nach. Befreite mich von der Last, die all die Jahre auf meinen Schultern gelastet hatte, ohne dass ich mir dessen bewusst gewesen war.
Ich verließ sogar mit einem leichten Lächeln das Anwesen von Miss Wellington, die in dieser Nacht nicht mehr aufgetaucht war. Mittlerweile zweifelte ich sogar daran, dass sie überhaupt je dort gewesen war. Oder der Geist meiner Oma. Das Einzige, was ich mit Gewissheit wusste, war, dass ich mich nicht länger schuldig fühlen musste. Dafür, dass ich in der Nacht von Halloween vor acht Jahren nicht bei meiner Grandma gewesen war, als sie gestorben war. Sie wusste, dass ich sie von ganzem Herzen liebte und sie fühlte ebenso für mich.
Erst Tage später erfuhr ich durch meine Recherchen, dass Miss Wellington einst die Schlossherrin des Anwesens gewesen war. Die Schwarz-Weiß-Fotografien sahen der Dame, die ich kennengelernt zu haben glaubte, zum Verwechseln ähnlich. Doch wer wusste schon, was die Magie der Nacht von Halloween bewirken konnte? Es hieß, die Grenzen zwischen den Welten seien ganz besonders um Mitternacht hauchzart.
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