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  • AutorenbildJanila Fuchs

Der Drache aus den blauen Tiefen


Welches Bild schwebt dir vor Augen, wenn du an einen Drachen denkst? Sind es die gezackten, ledrigen Schwingen, die rauen, moosgrünen Schuppen oder vielleicht ein aufgerissenes Maul voll spitzer Reißzähne, aus dem die Funken sprühen und dichter Rauch quillt?

Nun ja, dann wirst du in dieser Geschichte womöglich eine dir fremde Art von Drachen kennenlernen.

Tief unten, unter dem Meeresspiegel, noch viel weiter als bis zu der Stelle, an welche der letzte Rest Sonnenlicht dringt, existiert eine Welt, die von wundersamen Geschöpfen bevölkert wird.

Ihre Haut ist mit glänzenden, jadeblauen Schuppen bedeckt. Der langgestreckte, lindwurmartige Körper ermöglicht ihnen eine pfeilschnelle Bewegung durchs Wasser. Statt glühender Flammen entweicht ihren Kehlen ein derart heißer Atem, dass er das umgebende Nass zum Kochen bringt.

So wie es auch gerade bei Kobalt geschieht, der mit seiner kräftigen Schwanzflosse so viel Distanz wie nur möglich zwischen sich und den Herrscher des Wasserdrachenvolkes zu bringen versucht.

Was ist so falsch daran, die Welt außerhalb unserer Grenzen kennenlernen zu wollen?

Kaum hatte der Drache den Gedanken zu Ende gedacht, schallte ihm sogleich die Antwort entgegen, die sich weder durch den Widerstand des Wassers noch durch die kochende Hitze aufhalten ließ: Es ist töricht, zu glauben, die dort beheimateten Wesen könnten uns verstehen!

Die dröhnende Stimme des namenlosen Herrschers wurde bereits schwächer, doch Kobalt musste die Distanz weiter vergrößern, um dem mentalen Zugriff seines Königs zu entfliehen. Sobald der Wasserdrache jedoch die Weltengrenze erreichte, fuhr ihm ein stechender Schmerz in den Schädel und er rollte seinen massigen Körper, wie um sich vor der Pein abzuschirmen. Dabei erlosch das Licht, das wie sonst aus seinem Inneren strahlte und die blauen Schuppen seiner Haut zum Schillern brachte.

In tiefste Dunkelheit gehüllt stellte sich Kobalt bloß die eine Frage.

Wie schaffe ich es bloß, endlich an die Oberfläche zu gelangen?


***



Der Wind des heraufziehenden Sturms peitschte der jungen Frau salziges Wasser ins Gesicht und verklebte die dunkelbraunen Strähnen, die ihr um den Kopf wehten. Sie war der Kapitän dieses Schiffes und damit war es ihre Aufgabe, es aus dem Auge des Sturms herausbefördern.

Wenn es bloß der Sturm wäre.

Als erfahrene Seefahrerin war sie raues Wetter gewohnt und wusste, wie sie das Schiff in Position bringen musste, um dem Wind zu trotzen. Doch da waren auch die Geysire, kochend heißes Wasser, das in unmittelbarer Nähe in die Höhe schoss und seine Umgebung sekundenschnell in wabernden Dampf verwandelte. Dies schränkte nicht nur die Sichtweite der Seeleute ein, sondern brachte sie auch in ernsthafte Gefahr.

»Das ist nicht möglich«, murmelte sie.


Das Meer reichte an dieser offenen Stelle mehrere Kilometer in die Tiefe, wie sollte es ein Geysir schaffen, in solche Höhen auszubrechen?

Dennoch waren sie ein Zeichen dafür, dass sie endlich am Ziel ihrer jahrelangen Suche angelangt war. Es waren Hinweise auf die Existenz jener Wesen, die als bloße Legenden galten.

In diesem Moment ging unmittelbar vor dem Heck des Schiffes eine weitere Fontäne in die Höhe und die Besatzung, die sich dort befand, ging stöhnend in die Knie.

Auch wenn sie kurz vor ihrem Ziel stand, durfte sie es nicht riskieren, ihre Mannschaft weiter als nötig in Gefahr zu bringen.


»Befreit die Schatten!«, brüllte die Frau der Besatzung entgegen.

Sofort eilten Männer und Frauen unter Deck, um die Tiger aus ihren speziellen Behausungen zu entlassen. Als Wesen aus Rauch konnte ihnen Hitze nichts anhaben, allein das Licht war ihr größter Feind. Und da die gewitterschweren Wolken den Himmel verdeckten, ohne nur den kleinsten Strahl Mondlicht hindurchzulassen, war dies der richtige Zeitpunkt, die Schatten zu ihrer Hilfe zu rufen.

Wie alle körperlosen Wesen gehorchten auch diese dem Meister, der sie beschworen hatte. Daher strömten sie durch die Ritzen der Holzplanken und nahmen unmittelbar vor ihr, dem Kapitän, die Gestalt an, die sie ihnen zugestanden hatten: majestätische Großkatzen, mit Pranken so groß wie der Kopf eines Mannes. Jedoch waren sie damit nicht in der Lage, Hiebe zu verteilen. Der Natur der Schattenwesen entsprach es, Energien jeglicher Form zu dämpfen, einzuhüllen und bei Bedarf sogar, sie zu ersticken.

»Haltet die Geysire auf!«, befahl sie den wabernden Gestalten und beobachtete, wie sie sich auf die Reling zubewegten und schließlich zur Wasseroberfläche glitten.

Die junge Frau folgte ihnen und starrte aufs Meer, mit dem sie Eins geworden waren.

Ich kann nur hoffen, dass sie dich finden.


***


Kobalt verharrte für viele Flossenschläge unmittelbar vor der Barriere, welche ihn von der ersehnten Freiheit trennte. Die mentale Energie des Drachenvolkes versetzte seine Schuppen in Vibration. Und dann spürte er plötzlich, wie sie stetig nachließ.

Wie kann das sein?

Der Drache traute dieser trügerischen Hoffnung nicht und doch konnte er sich nicht davon abhalten, mit seiner Schnauze voran zu tasten und die Grenze auf ihre Stabilität hin zu prüfen. Er war noch nicht weit gekommen, da strömten Schwaden auf ihn zu, die er mehr spürte, als sah. Sie durchschnitten die Energieströme der mentalen Barriere und schnürten auch Kobalts eigenen Kräfte zusammen, sodass ihm die Sinne zu schwinden begannen.

Doch der Drache war nicht bereit, aufzugeben. In seinem Inneren ballte er all die Hoffnung, all die unterdrückte Wut auf den Herrscher seines Volkes und vor allem die unbändige Neugier auf die Welt außerhalb zu einem dichten Ball zusammen.

Dann entlud er diese innere Kraft in einem gleißend hellen Lichtstrahl, der sich in jeder seiner Schuppen mehrfach reflektierte und die Schatten auf einen Schlag verbannte.

Diesen Moment nutzte Kobalt, um die noch immer schwache Grenze zu durchbrechen und mit seiner kräftigen Schwanzflosse den Meeresgrund hinter sich zu lassen.

Habe ich mein Ziel nun tatsächlich erreicht?

Je näher er der Wasseroberfläche kam, desto deutlicher wurden die Schemen, die sich dahinter abzeichneten. Bis er schließlich immer langsamer wurde und kurz vor zwei geweiteten Augen zum Stillstand kam, die von einem ungewohnt runden Gesicht eingerahmt waren. Sofort fing er einen Gedanken auf, der feinerer Natur war, als er es von seinem Drachenvolk gewohnt war. Dafür war er umso dringlicher.

Bitte. Er muss mir einfach helfen.

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